Bereich InitiativeSozialraumInklusiv

Inklusiver Sozialraum

Für mehr Barrierefreiheit in Kommunen und Regionen

Rede von Dr. Volker Sieger - Einführung in die Thematik

Hier können Sie die vollständige Rede nachlesen, die Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit, zur Eröffnung der 1. Regionalkonferenz der InitiativeSozialraumInklusiv (ISI) hielt. Die Konferenz hatte das Thema "Mobilität in einem inklusiven Sozialraum" und fand am 1. April 2019 in Braunschweig statt.

Dr. Volker Sieger:

Mobilität als zentrales Element der Daseinsvorsorge

„Daseinsvorsorge umfasst die Sicherung des öffentlichen Zugangs zu existenziellen Gütern und Leistungen entsprechend der Bedürfnisse der Bürger, orientiert an definierten qualitativen Standards und zu sozial verträglichen Preisen. Welche Güter und Leistungen als existenziell notwendig anzusehen sind, ist durch die politische Ebene zeitbezogen zu ermitteln.“


Diese aktuelle Definition aus einem Wirtschaftslexikon verdeutlicht, worum es bei der Daseinsvorsorge geht. Daseinsvorsorge ist jedoch ein unbestimmter Rechtsbegriff. Auch existiert in Deutschland kein Daseinsvorsorgegesetz. Gleichwohl benennen verschiedene rechtliche Regelungen für unterschiedliche Bereiche die Aufgaben des Staates im Zusammenhang mit der Daseinsvorsorge. Zu den existenziellen Leistungen zählen neben dem Verkehr beispielsweise die Energieversorgung, Telekommunikation, Wasserversorgung, Abwasser- und Müllentsorgung, Bildung und Gesundheit. Die staatliche Verantwortung für die Daseinsvorsorge ist jedoch nicht damit gleichzusetzen, dass der Staat diese Leistung auch selber erbringt.


Historisch gesehen ist die Daseinsvorsorge im Hinblick auf den Verkehr stets auf den ÖPNV beschränkt gewesen. Das Regionalisierungsgesetz legt fest: „Die Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr ist eine Aufgabe der Daseinsvorsorge.“ Der Begriff „öffentlicher Personennahverkehr“ wird dabei sehr eng gefasst: „Öffentlicher Personennahverkehr im Sinne dieses Gesetzes ist die allgemein zugängliche Beförderung von Personen mit Verkehrsmitteln im Linienverkehr.“ Wir sprechen also im Wesentlichen über Straßenbahnen, U-Bahnen und Busse im Linienverkehr für den Stadt-, Vorort- oder Regionalverkehr. Allerdings enthält das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) den Zusatz, dass Taxen und Mietwagen den öffentlichen Personennahverkehr durchaus ergänzen, verdichten oder sogar ersetzen können.


Insgesamt kann man feststellen, dass es in den letzten Jahrzehnten viele positive Entwicklungen beim Ausbau der ÖPNV-Angebote insbesondere in Städten und urban geprägten Regionen gegeben hat. Der ÖPNV ist neben dem Radverkehr vielerorts eine tatsächliche Alternative zum motorisierten Individualverkehr geworden. Befördert wurde dies, neben einem planvollen Herangehen, durch Faktoren wie drohende Verkehrsinfarkte und steigende Luftverschmutzung. Das Ziel der Sicherstellung einer ausreichenden Bedienung der Bevölkerung mit Verkehrsleistungen wird darüber hinaus nicht mehr nur als die unbedingt notwendige Beförderung von A nach B verstanden, sondern moderner interpretiert. An erster Stelle steht hier die Vernetzung der verschiedenen Angebote: nicht nur die des ÖPNV miteinander, sondern diese auch mit dem Individualverkehr sowie den Angeboten privater Dienstleister.


Schaut man sich demgegenüber die Entwicklung des ÖPNV in ländlichen Regionen an, muss man feststellen, dass es in den letzten Jahrzehnten eine massive Tendenz hin zur Ausdünnung oder sogar Abschaffung von ÖPNV-Angeboten gegeben hat. Von einer funktionierenden Daseinsvorsorge kann dort kaum mehr die Rede sein. Hier ist die Notwendigkeit also noch viel größer, die Zukunft bereits heute zu denken – auch und gerade im Hinblick auf das Thema Daseinsvorsorge. Denn wenn man schon ein weitgehendes Versagen der klassischen Instrumente und Strukturen bei der Versorgung der ländlichen Bevölkerung mit Angeboten des klassischen ÖPNV im Rahmen der Daseinsvorsorge konstatieren muss, sollte man alles daransetzen, zukünftig sämtliche Mobilitätsressourcen, die denkbar und machbar sind, zu mobilisieren. Und dazu zählen neben einem gezielten Auf- und Ausbau klassischer ÖPNV-Angebote gerade die neuen und innovativen Ansätze.


Und was hat das alles jetzt mit Inklusion zu tun? Dazu lohnt sich ein Blick in die UN-BRK. Als allgemeine Grundsätze führt sie u. a. die Nichtdiskriminierung, die volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft sowie die Zugänglichkeit auf. Die Vertragsstaaten stehen in der Pflicht, daraus geeignete Maßnahmen abzuleiten und umzusetzen.


Was sich hinter den allgemeinen Grundsätzen für die unterschiedlichen Lebensbereiche von Menschen mit Behinderungen verbirgt, wird in den nachfolgenden Artikeln der Konvention näher ausgeführt. Hierzu zählen u. a. die Zugänglichkeit (Artikel 9), die unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft (Artikel 19), die persönliche Mobilität (Artikel 20), die Bildung (Artikel 24), die Gesundheit (Artikel 25), Arbeit und Beschäftigung (Artikel 27) oder auch die Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport (Artikel 30).


Wenn man nun den Bogen spannt zum Thema Mobilität und Daseinsvorsorge in der Stadt und auf dem Land, dann wird deutlich, welche Auswirkungen das haben muss. Solange Mobilität kein Selbstzweck ist, sondern Grundbedürfnis aller Menschen – um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, um einer Erwerbstätigkeit oder Ausbildung nachzugehen, um Leistungen der Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen zu können usw. – gibt es keinen ersichtlichen Grund, warum im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen hier irgendwelche Abstriche gerechtfertigt wären.


Und wenn der ÖPNV der Zukunft davon geprägt sein wird, dass die unterschiedlichsten Verkehrsangebote miteinander vernetzt sind, die klassische Linienbindung nicht mehr das Charaktermerkmal des ÖPNV schlechthin ist, Individual- und Kollektivverkehr zumindest teilweise eine Symbiose eingehen, dann ist Daseinsvorsorge heute und in Zukunft auch anders zu definieren als in den vergangenen Jahrzehnten. Und selbstverständlich darf es dann in diesem „modernen“ ÖPNV für Menschen mit Behinderungen auch keinerlei Barrieren geben.

Diese Feststellung ist allerdings kein Selbstläufer. Ohne ein modernes Personenbeförderungsrecht, in dem die Daseinsvorsorge zeitgemäß geregelt und nicht nur der grobe Rahmen für privatwirtschaftliche Mobilitätsdienstleistungen vorgegeben wird, werden wir Inklusion und wirkliche Teilhabe niemals erreichen können.

Braunschweig, 1. April 2019