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Interview mit Klemens Kruse, Leiter der Landesfachstelle für Barrierefreiheit Sachsen-Anhalt

Im Zuge der Umsetzung der EU-Webseitenrichtlinie in den Bundesländern wurde im Jahr 2019 die Landesfachstelle für Barrierefreiheit Sachsen-Anhalt gegründet. Was sind ihre Aufgaben und wo gibt es noch Handlungsbedarf bei der Umsetzung der Barrierefreiheit? Wir haben mit Klemens Kruse, Leiter der Landesfachstelle, darüber gesprochen.

Herr Kruse, die Landesfachstelle für Barrierefreiheit Sachsen-Anhalt wurde im Zuge der Umsetzung der EU-Webseitenrichtlinie gegründet. Welche Aufgaben hat sie?

Klemens Kruse:

Die Landesfachstelle für Barrierefreiheit Sachsen-Anhalt vereint unter ihrem Dach genau genommen drei Einrichtungen. Erstens ist sie die zentrale Anlaufstelle zu Fragen der Barrierefreiheit im Land Sachsen-Anhalt - für alle öffentlichen Stellen, aber sie berät auch, im Rahmen der Kapazitäten, Unternehmen und Verbände. Außerdem ist auch die Überwachungsstelle für die Barrierefreiheit von Informationstechnik Teil der Landesfachstelle, ebenso wie die Ombudsstelle. Während die Überwachungs- und die Ombudsstelle eingerichtet wurden, um den europäischen Verpflichtungen nachzukommen, beruht die Gründung der Landesfachstelle für Barrierefreiheit auf einer eigenständigen Entscheidung des Landes Sachsen-Anhalt.

Als zentrale Anlaufstelle ist es unsere Aufgabe, die öffentlichen Stellen im Land Sachsen-Anhalt bei deren eigenverantwortlicher Umsetzung von Barrierefreiheit zu unterstützen. Dies geschieht zum Beispiel durch Beratungen, durch Informationsveranstaltungen und durch Hinweise, die wir auf unserer Internetseite geben werden.

Das heißt, die Landesfachstelle ist sozusagen das Pendant zur Bundesfachstelle Barrierefreiheit auf Landesebene?

Klemens Kruse:

Ja, so könnte man es sagen. Allerdings, wie gesagt, gehören auch die Überwachungs- und die Ombudsstelle für Informationstechnik zur Landesfachstelle. Darin unterscheiden die Stellen sich.

Wie berät die Landesfachstelle?

Klemens Kruse:

Unsere Informations- und Beratungsleistungen darf man sich nicht nur technisch in dem Sinne vorstellen, dass wir auf Nachfrage Auskünfte geben, wie bestimmte Situationen auf einem hohen Niveau der Barrierefreiheit, nachhaltig und im ansprechenden Design gestaltet werden können, wie bestimmte Normen oder technische Regelwerke zu verstehen oder welche Rechtsvorschriften anzuwenden sind. Das wird alles sicher einen großen Bereich unserer alltäglichen Aufgaben ausmachen. Die Informations- und Beratungsleistung besteht daneben aber auch immer darin, den Sinn und Zweck der barrierefreien Gestaltung herauszustellen. Wir treten für eine Umweltgestaltung ein, die eine gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am öffentlichen Leben ermöglicht und dabei zugleich eine große Bedien- und Nutzungsfreundlichkeit für Alle gewährleistet. Wir wollen und werden als Landesfachstelle für Barrierefreiheit also nicht nur auf Anfrage reagieren, sondern auch von uns aus aktiv für Themen und Aufgaben sensibilisieren. Insofern ist die Landesfachstelle für Barrierefreiheit immer auch Interessenvertretung und Stimme der Barrierefreiheit.

Zu welchen Themen berät die Landesfachstelle?

Klemens Kruse:

Grundsätzlich können wir zu allen Themen der Barrierefreiheit beraten. Aber natürlich setzen wir Schwerpunkte. Für die zentrale Anlaufstelle hatten wir drei Stellen ausgeschrieben, die zeigen, wo wir die Schwerpunkte setzen: bei der Barrierefreiheit im Hochbau, der Barrierefreiheit im öffentlichen Raum und barrierefreie Mobilität sowie der Kommunikations- und Informationstechnik im herkömmlichen und elektronischen Verwaltungsverfahren. Die zuletzt genannte Stelle bezieht sich insbesondere auch auf das E-Government.

Einen weiteren Schwerpunkt setzen wir bei der Information und Beratung zur barrierefreien Gestaltung von Websites und mobilen Anwendungen. Diese leisten wir über die Überwachungsstelle für die Barrierefreiheit von Informationstechnik, die Teil der Landesfachstelle für Barrierefreiheit ist. Die Überwachungsstelle wird von Frau Wille geleitet, einer Informatikerin, die gleichzeitig stellvertretende Leiterin der Landesfachstelle für Barrierefreiheit ist. Ihr an die Seite gestellt sind zwei Stellen im Bereich der Sachbearbeitung, die ebenfalls einen informationstechnischen Hintergrund haben.

Die Stelle der Leitung der Landesfachstelle, die zugleich auch die Leitung der Ombudsstelle beinhaltet, und die ich wahrnehmen darf, war an den Abschluss des zweiten juristischen Staatsexamens gebunden. Die Information und Beratung zu den rechtlichen Fragen obliegt also mir.

Nach Abschluss der noch offenen Stellenbesetzungsverfahren werden wir, denke ich, gut und thematisch breit aufgestellt sein.

Auf Bundes- wie auf Landesebene hat die EU-Webseitenrichtlinie Durchsetzungs- und Überwachungsstellen gefordert, um Organe zu schaffen, die die digitale Barrierefreiheit der öffentlichen Stellen kontrollieren bzw. Ansprechpartner bei Beschwerden von Bürgern sind. Können Sie beide Organe und ihre Funktionen beschreiben?

Klemens Kruse:

Mit den von der EU geforderten Überwachungsstellen ist in Deutschland im Bereich der Barrierefreiheit erstmals eine systematische und regelmäßige Überprüfung der Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen geschaffen worden, die unabhängig von den Maßnahmen erfolgt, die die an sich verpflichteten Stellen selbst unternehmen. Die Überwachungsstellen testen jährlich eine Auswahl der öffentlichen Stellen, inwieweit sie die gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf die barrierefreie Gestaltung von Websites (einschließlich Intranet und Extranet) sowie mobilen Anwendungen erfüllt haben. Und sie beraten die öffentlichen Stellen anlässlich der Prüfungsergebnisse im Hinblick auf die weitere Umsetzung.

Während die Überwachungsstellen also unabhängig vom Einzelfall nach eigenen Kriterien die gesetzliche Umsetzung beobachten und ggf. Hinweise zur Verbesserung der Barrierefreiheit geben, bieten die Ombudsstellen  Nutzerinnen und Nutzern von Internet-, Intranet- und Extranetseiten sowie mobilen Anwendungen die Möglichkeit, einen konkreten Einzelfall zu klären. Sie können sich an die Ombudsstelle wenden, wenn sie eine Barriere bei der Nutzung festgestellt haben. Voraussetzung ist allerdings immer, dass man zunächst versucht hat, das Problem mit der betreffenden öffentlichen Stelle zu klären, also dem Anbieter der Website bzw. der App.

Es ist ebenfalls eine Neuerung aufgrund der EU-Richtlinie, dass alle öffentlichen Stellen eine Kontaktmöglichkeit bieten müssen, über die Bürgerinnen und Bürger Barrieren, also Probleme bei der Nutzung der Angebote, melden und ggf. alternative Zugänge anfordern können.

Was meinen Sie mit „alternativen Zugängen“?

Klemens Kruse:

Mit alternativen Zugängen meine ich solche, die zwar nicht barrierefrei sind, die es aber der betreffenden Person in dem konkreten Einzelfall ermöglicht, die entsprechenden Informationen erhalten oder eine Funktion ausüben zu können. Das können ganz unterschiedliche Lösungen sein, die vor allem bei der betreffenden Person erfragt werden müssen.

Zurück zu den Überwachungsstellen. Wie sieht die Berichterstattung an die EU aus, wie ist sie gestaltet?

Klemens Kruse:

Die Überwachungsstellen der Bundesländer und die des Bundes bereiten alle drei Jahre, erstmals im Jahr 2021, den Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung der europäischen Vorgaben vor. Der Bericht wird auch Angaben zur Nutzung der Durchsetzungsverfahren enthalten. Das heißt zum Beispiel, wie häufig es Beschwerden bei den Ombudsstellen über vorhandene Barrieren auf Websites oder in Apps der öffentlichen Stellen gab. Die EU wird angesichts der Rückmeldungen über einen weiteren Umsetzungsbedarf beschließen, also urteilen, ob die bestehende Regelung für die Bürgerinnen und Bürger ausreichend ist.

Wie hat das Land Sachsen-Anhalt die EU-Webseitenrichtlinie umgesetzt, im Vergleich zum Bund?

Klemens Kruse:

Es gibt in Sachsen-Anhalt ebenso wie im Bund und allen Mitgliedsstaaten der EU wie vorgeschrieben eine Überwachungsstelle und eine Durchsetzungsstelle. In Sachsen-Anhalt heißt die Durchsetzungsstelle Ombudsstelle. Der Unterschied zum Bund ist, dass in Sachsen-Anhalt alle drei Stellen unter einem Dach arbeiten, dem Dach der Landesfachstelle für Barrierefreiheit. Einmalig ist in Deutschland auch die Anbindung an eine Unfallkasse, das heißt, die Landesfachstelle ist ein Geschäftsbereich der Unfallkasse Sachsen-Anhalt, die damit auch unser Arbeitgeber ist.

Auf Bundesebene ist ja die Schlichtungsstelle BGG BGG die Durchsetzungsstelle.

Sie haben im Bereich Barrierefreiheit langjährige Erfahrung, zuletzt als Leiter des Fachbereichs Rechts hier in der Bundesfachstelle Barrierefreiheit. Was hat Sie an der neuen Aufgabe gereizt?

Klemens Kruse:

Als Landesfachstelle sind wir in vielen Bereichen näher am Alltag der Menschen. Das gilt vor allem für die kommunalen Behörden, denken Sie an Bürgerämter, Bibliotheken, Schwimmhallen und dergleichen mehr, aber auch an den Öffentlichen Personennahverkehr. Gleichzeitig ist die finanzielle Situation im Land und in den Kommunen eine andere als im Bund. Sich in diesem Umfeld für Barrierefreiheit einzusetzen, ist für mich einerseits neu und ich erhoffe mir davon, viel dazu zu lernen. Andererseits empfinde ich diese Ausgangslage als besonders herausfordernd und lohnend.

In welchen Bundesländern gibt es noch Beratungsstellen zur Barrierefreiheit?

Klemens Kruse:

In vielen Ländern existieren Beratungsmöglichkeiten. In Nordrhein-Westfalen gibt es die agentur barrierefrei nrw, in Bayern die Beratungsstelle Barrierefreiheit bei der Bayerischen Architektenkammer, die seit kurzem auch zur digitalen Barrierefreiheit berät. In Hamburg gibt es das Kompetenzzentrum für ein barrierefreies Hamburg und in Sachsen das Beratungszentrum für Barrierefreies Planen und Bauen in Sachsen und das Kompetenzzentrum für barrierefreie Informations- und Kommunikationsangebote (BIKOSAX). Diese Aufzählung ist sicher nicht vollständig. Teilweise gibt es auch behördenintern Kompetenzzentren, von denen man mitunter gar nicht erfährt.

Ja, ich meine beobachten zu können, dass es seit einigen Jahren eine Einsicht und einen Trend gibt, dass die Schaffung von Beratungsstellen die Umsetzung von Barrierefreiheit wirksam und nachhaltig befördert.

Wie sehen Sie die künftige Entwicklung des Beratungsangebots zur Barrierefreiheit in Deutschland? Wo bestehen noch Mängel?

Klemens Kruse:

Ich gehe davon aus, dass es auch in Zukunft einen weiteren Aufbau von Beratungs- oder Kompetenzzentren geben wird. Das hängt auch mit der Erfahrung zusammen, dass Barrierefreiheit bei den Verantwortlichen und in den vorhandenen Strukturen nicht so schnell zur Selbstverständlichkeit wird, wie es die Barrierefreiheit verlangt. Barrierefreiheit zielt darauf ab, in alle allgemeinen Gestaltungen die Bedarfe von Menschen mit Beeinträchtigungen von Anfang an mit einzubeziehen. Barrierefreiheit zieht daher einen großen Veränderungsbedarf nach sich.

Auch ist es nach wie vor in der Regel so, dass innerhalb von Ausbildungs- und Studiengängen Barrierefreiheit bestenfalls am Rande behandelt wird. Erste Studiengänge bauen sich gerade erst auf. Von daher ist es notwendig, Know-how von außen zuzuliefern und gleichzeitig der Barrierefreiheit eine eigene Stimme zu verleihen, damit das Thema nicht angesichts der vielfältigen Herausforderungen, denen sich Behörden und Unternehmen gegenübergestellt sehen, unter den Tisch fällt.

Ob aber Beratungsstellen wie die Landesfachstelle für Barrierefreiheit Sachsen-Anhalt eingesetzt werden, ist immer auch eine Frage, ob sie sich politisch durchsetzen lassen. Aber: Behörden, die einen Beratungsbedarf haben, den sie nicht durch das vorhandene Personal decken können, müssen sich diesen extern zukaufen. Das dürfte am Ende kostenintensiver sein und ist nicht nachhaltig. Wünschenswert für die breitere Umsetzung von Barrierefreiheit ist daher eine stärkere Integration des Themas in den Hochschulen und ebenso mehr institutionalisierte Beratungsangebote.

Herr Kruse, vielen Dank für das Gespräch!

Weitere Informationen zur Landesfachstelle finden Sie auf deren Internetseite:

www.lf-barrierefreiheit-st.de