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Interview mit Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit

Wenn nicht mehr barrierefreier Wohnraum geschaffen wird, werden die sozialen Kosten enorm sein, erklärt Dr. Volker Sieger, Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit. Im Interview warnt er davor, die Baukosten als Argument zu benutzen, um von barrierefreien Standards abzurücken, und regt dazu an, finanzielle Zuschüsse des Bundes an das Kriterium Barrierefreiheit zu knüpfen.

Herr Dr. Sieger, der Mangel an barrierefreiem Wohnraum in Deutschland ist groß, es fehlen Studien zufolge 3 Millionen barrierefreie Wohnungen. Was muss aus Ihrer Sicht getan werden, um diesen Mangel zu beseitigen?

Dr. Volker Sieger:

Aus meiner Sicht müssen alle zur Verfügung stehenden Instrumente genutzt werden, um möglichst schnell deutlich mehr barrierefreie Wohnungen zu schaffen. Ich möchte nur einige Stichworte nennen. Das Gros der Landesbauordnungen muss dahingehend angepasst werden, dass mehr barrierefreie Wohnungen vorgeschrieben werden. Als Konsequenz daraus sollte auch die Musterbauordnung (MBO), die als Muster für die Landesbauordnungen empfohlen wird, geändert werden. Die MBO empfiehlt seit mittlerweile 25 Jahren die gleiche Anzahl barrierefreier Wohnungen. Als hätte sich die Welt seitdem nicht verändert. Damit zukünftig Barrierefreiheit in allen Planungen frühzeitig berücksichtigt wird, benötigen wir zudem Verbesserungen bei der Bauleitplanung von Städten und Gemeinden. Konkret heißt das, das Baugesetzbuch als rechtliche Grundlage der Bauleitplanung muss entsprechend überarbeitet werden. Und schließlich muss ernsthaft nach Möglichkeiten gesucht werden, wie Zuschüsse des Bundes an die Länder an das Kriterium Barrierefreiheit geknüpft werden können. Hier spreche ich in aller erster Linie von der sozialen Wohnraumförderung sowie der Städtebauförderung.

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag das Ziel genannt, 400.000 neue Wohnungen pro Jahr zu bauen. Wie kann hier die Barrierefreiheit mit berücksichtigt werden?

Dr. Volker Sieger:

Ich unterstütze dieses Ziel ausdrücklich. Die Krux ist nur, dass wir damit in jedem Bundesland eine unterschiedliche Anzahl an barrierefreien Wohnungen und in vielen Bundesländern nicht eine einzige Wohnung bekommen, die uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbar ist. Insofern verweise ich gerne auf die Forderung der Behindertenbeauftragten der Länder und des Bundes aus dem Jahr 2018, dass der gesamte Neubau im Mehrparteienwohnungsbau barrierefrei und ein deutlicher Anteil uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbar sein muss. Darüber hinaus müssen wir selbstverständlich auch an den Bestand. Hierzu ist es aus meiner Sicht zwingend notwendig, das KfW-Programm „Altersgerecht umbauen - Barrierereduzierung“ auskömmlich auszustatten. Bislang konnten damit gerade einmal bis zum Sommer Anträge bewilligt werden. In der zweiten Jahreshälfte war der Topf regelmäßig ausgeschöpft. Gleichzeitig gelingt es kaum einem anderen Förderprogramm des Bundes so sehr, über einen Zuschuss so viele private Investitionen zu generieren. Hier ist also jeder Euro doppelt gut angelegt.

In Bezug auf das Thema barrierefreier Wohnraum werden verschiedene Begriffe benutzt, die unterschiedliche Definitionen haben. Können Sie uns die Begriffe „altersgerecht“, „barrierearm“, „barrierefrei“, „barrierereduziert“ und „R-Wohnungen“ kurz erläutern?

Dr. Volker Sieger:

Mit entsprechenden Standards unterlegt ist nur der Begriff „barrierefrei“. Wie eine barrierefreie Wohnung auszusehen hat, ist in der DIN 18040-2 festgeschrieben. Die Norm unterscheidet zwischen barrierefreien Wohnungen und solchen, die barrierefrei und uneingeschränkt mit dem Rollstuhl nutzbar sind. Umgangssprachlich sind das die sogenannten R-Wohnungen, weil die Norm die Anforderungen an solche Wohnungen mit einem „R“ kennzeichnet.
Demgegenüber sind alle anderen Begriffe unspezifisch. „Altersgerecht“ fokussiert sich im Wesentlichen auf die Stufen- und Schwellenlosigkeit, weil diese insbesondere im Alter immer wichtiger wird. „Barrierearm“ sagt letztendlich aus, dass man sich zwar bemüht hat, barrierefrei zu bauen oder umzubauen, jedoch die genannte DIN-Norm nicht eingehalten hat oder, insbesondere im Bestand, nicht einhalten konnte.
Der Begriff „barrierereduziert“ wird vornehmlich im Bestand verwendet. Er besagt, dass ehemals vorhandene Barrieren abgebaut wurden. Welche dies sind, bringt er nicht zum Ausdruck. Allerdings kann man über die Liste der förderfähigen Maßnahmen des bereits erwähnten KfW-Programms ersehen, welche Standards für welche Maßnahmen gelten.

Ende April wurde das „Bündnis für bezahlbaren Wohnraum“ vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen initiiert. Der Behindertenbeauftragte des Bundes Jürgen Dusel forderte zum Auftakt des Bündnisses ein klares Bekenntnis für mehr Barrierefreiheit. Wie kann es künftig bezahlbaren, barrierefreien Wohnraum geben, angesichts aktuell stark steigender Baukosten?

Dr. Volker Sieger:

Die Baukosten als Argument zu benutzen, von bestimmten Standards abzurücken - neben der Barrierefreiheit könnte man hier auch die Energieeffizienz von Gebäuden anführen - ist eindimensional gedacht. Die gesellschaftlichen Kosten, die verursacht werden, wenn wir heute nicht zeitgemäß bauen, werden um ein Vielfaches höher sein, wenn wir dieser Argumentation folgen.

Als ein Argument gegen barrierefreien Wohnraum werden immer wieder die hohen Kosten genannt. Aber ist barrierefrei Bauen wirklich teurer?

Dr. Volker Sieger:

Die nahezu einhellige Meinung unter Fachleuten ist, dass die Mehrkosten für Barrierefreiheit im Wohnungsbau, insbesondere beim Neubau und fachgerechter Planung, maximal 1 bis 2 % der Baukosten ausmachen.

Wer eine barrierefreie Wohnung hat und darauf angewiesen ist, braucht auch ein barrierefreies Lebensumfeld. Vom Supermarkt über die Arztpraxis bis zur Gaststätte und dem ÖPNV, alles sollte barrierefrei erreichbar und zugänglich sein, ohne fremde Hilfe. Wie können wir die Lebensqualität von (auch älteren) Menschen mit Einschränkungen besser gestalten und das selbstbestimmte Wohnen und Leben für alle in unserer Gesellschaft ermöglichen?

Dr. Volker Sieger:

Das ist natürlich eine Angelegenheit, die über den reinen Wohnungsbau hinausgeht. Hier ist es wichtig, städtebauliche Aspekte in den Vordergrund zu stellen und mit den Themen Barrierefreiheit und inklusiver Sozialraum zu verknüpfen. Das ist zweifellos kein Selbstläufer. Von daher hatte ich ja bereits angesprochen, dass es aus meiner Sicht zielführend wäre, die Städtebauförderung verpflichtender an Barrierefreiheit zu binden, als dies bislang der Fall ist. Bei der Erschließung neuer Quartiere wäre es sehr hilfreich, wenn die Bauleitplanung Barrierefreiheit als Grundsatz berücksichtigen müsste. Bislang gilt dies beispielsweise schon für Umweltverträglichkeit und Familienfreundlichkeit. Durch die Bauleitplanung können beispielsweise städtebauliche Defizite in neu ausgeschriebenen Flächen behoben bzw. kompensiert werden. Der Mangel an barrierefreiem Wohnraum und barrierefreier Infrastruktur ist zweifellos ein städtebauliches Defizit.

Herr Dr. Sieger, vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person:

Dr. Volker Sieger ist Historiker und Politikwissenschaftler und seit 2016 Leiter der Bundesfachstelle Barrierefreiheit. Er ist Mitglied in diversen DIN-Ausschüssen zum Thema Barrierefreiheit und war jahrelang auch im Bereich der Standardisierung auf europäischer Ebene tätig. Weitere Informationen: Leitung Bundesfachstelle Barrierefreiheit